Der Letzte Mohikaner

Ich durchschritt das dunkle Tor und stand in einer großen Halle. Weihrauch lag in der Luft. Kerzen brannten. Die Halle war erfüllt von Musik, die um den gregorianischen Orgelpunkt kreiste. Es waren Stimmen zu hören, die in mittelhochdeutscher Sprache gemeinsam magische Sätze sprachen. Das knapp bemessene Publikum im hinteren Teil der Halle trug die Falten vergangener Tage. Mir war, als ob ich mit meinem Eintreten in diese Halle in eine andere Zeit zurück geschritten war. Ich war Umgeben vom tiefen Mittelalter.

Ganz vorne in der Halle sah ich sie, diese Gestalt, die ich nicht mehr vergessen sollte. In helles Licht getaucht und in einem Gewand aus längst vergangenen Jahrhunderten gekleidet, stand er da. Das mußte er sein, einer der letzten Träger der Heilgen Weihen, von dem man mir so viel erzählt hatte. Einer der letzten Angehörigen des sog. Alten Weges, einer langsam aussterbenden Kultur: Der Letzte Mohikaner. Er war der Schamane, der Medizinmann und Häuptling in diesem, seinem immer leerer werdenden Reservat. Er hatte die letzten Mitglieder seines Stammes um sich geschart, um mit seinem aussterbenden Volk gegen den drohenden Untergang zu kämpfen.

Er stand ganz alleine vorne in der Halle, durch eine Art Bühne erhöht. Er war vertieft in die Zeremonien des alten Kultes, die er als Träger der Heiligen Weihen leitete. Gerade bereitete er sich darauf vor, zu seinen Kriegern zu sprechen. Doch es war kaum ein Krieger in der Halle auszumachen. Nur einige alte Squaws warteten gespannt auf die Rede ihres Häuptlings.

Dann begann er zu sprechen. Er sprach völlig frei und schon bald war mir klar, diese Rede hatte er schon oft gehalten. Er führte seinem Volk verjährte Abenteuer vergangener Zeiten vor Augen. Er erinnerte an den Glanz der alten Zeit, als sein Stamm noch stark und mächtig war. Er reif sein Volk oder das, was von ihm noch übrig war, dazu auf, auch weiterhin unbeirrbar der Überlieferung der Ahnen zu folgen. Er warnte vor dem Neuen Weg. Er beschwor, bedrängte und beschimpft sie, nicht vom alten, wahren Weg abzuweichen. Überall sah er die Feinde des Stammes am Werk. Er zeigte auf, dass der Große Geist sich aus der Welt zurückgezogen haben musste. Er malte mit bunten Farben das kommende Unheil aus. Er warnte seine Stammesmitglieder vor dem Zorn des großen Manitus, der über alle, die den Alten Weg verlassen, hereinbrechen werde.

Ich merkte dem Letzten Mohikaner an, dass er der Erschöpfung nahe war. Der langjährige Kampf gegen den Neuen Weg hatte ihn müde gemacht. Seine Kräfte schienen verbraucht. Er war alt geworden. Und dennoch war er nicht bereit, den Neuen Weg mit zugehen. Er hielt mit seiner kleinen Schar tapfer an den Überlieferungen des Alten Weges fest und er versuchte, die Vergangenheit in seinem Reservat künstlich am Leben zu erhalten.

Aus der Erzählung anderer wusste ich, dass der Letzte Mohikaner noch immer dem Personenkult vergangener Tage anhing und sich auch weiterhin als Häuptling verehren und feiern ließ. Er beanspruchte auch weiterhin, die alleinige Führung in seinem Stamm. Jede Eigeninitiative wurde durch ihn verhindert. Ohne ihn lief in diesem Reservat nichts und gegen ihn schon gar nichts. Er war es, der die Dinge vorantrieb oder bremste. Er war es, der Schlachtpläne schmiedete oder verwarf. Er war es, der über Glück und Unglück des Stammes entschied. Wer ihn nicht als Häuptling achtete, wer auch nur den leisesten Verdacht erweckte, mit dem Neuen Weg zu sympathisieren, der wurde aus dem Stamm verbannt.

Der Letzte Mohikaner hatte inzwischen seine Ansprache beendet und bereitete sich nun auf den Vollzug des heiligen Kultes vor, den nur er vollziehen konnte. Mir hatte sich bei seiner Rede alles zusammengezogen. Ich hatte so etwas einfach nicht mehr für möglich gehalten. Ich kannte den Alten Weg, seine Riten und seine Weltanschauung zwar noch aus Büchern und den Erzählungen alter Menschen. Aber hier in dieser Halle war der Alte Weg mit seinem ganzen, verstaubten Gehabe, mit seinem absolutistischen Machtanspruch, mit seiner ideologisch reinen Lehre lebendig. Hier in dieser Halle igelte man sich in seiner letzten Wagheit (was anders nämlich ist „letzte Wahrheit“?) ein, während draußen an einem neuen Miteinander gebaut wurde. Hier drinnen schloss man sich ein, um die verrosteten Schätze zu bewahren und draußen entdeckte man immer neue Reichtümer. Hier drinnen machte man die Menschen immer kleiner, während dort draußen eine ganz neue Größe gelernt und gelehrt wurde. Hier drinnen zog man sich in die Grenzen des selbst gewählten Gettos zurück, während draußen immer mehr Grenzen abgebaut wurden.

Ich spürte, dass ich meinen Auftrag nicht würde ausführen können. War mir doch aufgetragen worden, die Stammesmitglieder in diesem Reservat mit dem Neuen Weg vertraut zu machen, sie auf den Neuen Weg vorzubereiten. Doch merkte ich, hier war ich machtlos. Hier kam ich zu spät. Diese Menschen waren zu tief mit dem Alten Weg verbunden. Diesen Menschen den Glauben an die alte Überlieferung zu rauben, würde bedeuten, ihnen den letzten Halt in ihrem Leben zu rauben. Sie konnten ohne die Mauern, die sie um sich gebaut hatten nicht mehr leben. Hier in dieser Halle hatten sie sich schon zu weit von der Wirklichkeit draußen entfernt. Hier hatten sie sich eine Schein-Welt erhalten.

Einige schienen mit diesem alten Glauben zwar zufrieden und glücklich zu sein. Doch es gab auch viele, die einen verbitterten, verkrusteten Eindruck machten. Für den Glauben an den Alten Weg hatten viele zu viele Opfer gebracht. Denn nicht nur der Letzte Mohikaner hatte seine ganze Hoffnung auf den Alten Weg gelegt. Wie er hatten viele nicht nur auf Frauen verzichtet, um dem Alten Weg zu dienen. Und nun sollte das alles nichts mehr zählen? Und nun sollte der Glaube an den Alten Weg falsch sein? Und nun sollten sie sich eingestehen, dass sie die meiste Zeit ihres Leben für eine verstaubte Idee gelebt hatten? Nein, das würden diese Leute niemals einsehen wollen und können.
Ich sah die alten Squaws in der Halle. Wo waren die Jugendlichen des Stammes? Hatte der Glaube an den Alten Weg seine Kraft für sie verloren? Hatten sie entdeckt, dass der alte Glaube ihnen außerhalb der Halle nicht mehr bei ihrem Leben half? Hatten sie den Widerspruch zwischen dem Gehabe hier und der Wirklichkeit da draußen entdeckt? Hatten sie die Atmosphäre in der Halle nicht mehr ausgehalten?

Ich bekam Angst vor dieser Art zu leben. Aus vielen Erzählungen wusste ich, um die krankmachende Macht, die der Alte Weg auf die Menschen haben konnte. Mir zog sich alles zusammen. Ich konnte diesen Anblick nicht länger aushalten. Ich musste raus – raus aus der Halle, raus aus dieser Traumwelt, einfach nur raus. Ich zitterte. Ich wollte weg, wollte nicht angesteckt werden von diesem Pessimismus, von diesem fehlenden Vertrauen auf das Wirken des Großen Geistes. Ich wollte an die Luft, wollte frei atmen. Ich kämpfte mich nach draußen. Endlich Luft, endlich freier Himmel, endlich die Weite der Erde, endlich Leben.

Damals dachte ich, dass ich auf dem richtigen Weg sei. Damals war ich nicht alleine, aber heute habe ich kaum noch Weggenossen. Die meisten meiner Freunde haben resigniert. Die Häuptlinge des Alten Weges haben sich in den wenigen Reservaten länger gehalten als wir dachten. Sie haben sich verbündet und kämpfen mit allen Mitteln gegen den Neuen Weg. Sie haben ihre Macht spielen lassen und vielen meiner Weggenossen haben sie dabei übel mitgespielt. Viele von uns haben inzwischen aufgegeben und sind aus den Reservaten ausgezogen. Sie haben dort keinen Platz gefunden.

Und so frag ich mich: Sind auch meine Stunden gezählt? Wie lange noch brennt das Feuer in mir? Wie lange noch tragen meine Träume? Wie lange noch habe ich die Kraft für den nächsten Schritt?

Und ich werde den Gedanken nicht los: Vielleicht bin ja ich der Letzte Mohikaner?

Veröffentlicht in:

KatBl (5/2000), 307ff